Tragisches Unglück am Schützenfestmontag 1934

von Ulrich Rauchheld, Lennestadt-Bilstein

Es war Montag  der 2. Juli 1934. Gegen 8.00 Uhr machten sich die Lehrerin Steinmetz und der Hauptlehrer Knop von der Volksschule Benolpe mit  ihren Schulkindern auf den Weg Richtung Benolper Kreuz. Dort oben wollten sie gemeinsam “Auf dem Löh”  Waldbeeren  suchen. Mit dem Verkaufserlös der Beeren, sollte wie in den Jahren vorher, einen Ausflug nach Köln  gemacht werden.  Mit dabei auch die 8 jährige Maria Löcker, die Tochter des Land – u. Gastwirtes Franz Löcker. Mit ihrer Freundin Adelheid Schäfer sammelte sie kniend eifrig Waldbeeren für diese gemeinsame Sache. Man erzählte sich Geschichten vom vergangenen Wochenende und auf einmal fiel Maria mit dem Kopf nach Süden gewandt, rückwärts auf den Boden  und blieb leblos liegen.  Sofort eilten die Lehrpersonen herbei und sahen, dass Maria eine kleine offene Wunde am Hinterkopf hatte. Hauptlehrer Knop trug Maria nach Benolpe. Es wurde ein Fahrzeug besorgt und zur ärztlichen Versorgung nach  Dr. Bremm in Welschen Ennest  gefahren.  er stellte eine Geschwulst oberhalb des linken Auges fest. Der Verletzung am Hinterkopf, schenkte er keine Bedeutung . So kam sie ins Altenhundemer  Krankenhaus  und wurde von Dr. Gladen operiert. Der Puls des Kindes war zu diesem Zeitpunkt kaum noch fühlbar. Auch hier wurde  der  Verletzung am Hinterkopf  keine Bedeutung geschenkt. Man öffnete die  fünfzigpfennigstückgroße Geschwulst und es floss Blut, Knochensplitter  und Gehirnmasse heraus. Maria starb am gleichen Tag um 20.00 Uhr, ohne das  Bewusstsein wieder erlangt zu haben.

In Benolpe war man fassungslos.

Wie konnte Maria an einer äußerlich harmlosen Verletzung sterben? Unter großer Anteilnahme der Benolper Bevölkerung und der gesamten Schüler der Benolper Schule wurde sie am 7. Juli 1934, auf dem alten Benolper Friedhof beerdigt.

Jedoch ließ dieser Tod die Benolper nicht los. Adelheid Schäfer erinnerte sich, dass kurz bevor Maria zusammen brach,  ein Surren gehört zu  haben. Der in der Nähe sich aufhaltende  Kaufmann Valentin Nolte aus Benolpe meinte später, mehrere Geschoßeinschläge im Unterholz wahrgenommen zu haben. Förster Schubert[1] von der Einsiedelei sagte später: “Das Kind ist durch eine Kugel des Vogelschießens in Bilstein zu Tode gekommen, welches  am selben Tag stattgefunden hat.” Gab es da eine Verbindung?  Das Waldbeergebiet liegt genau in Schießrichtung der Bilsteiner Vogelstange und 2 Kilometer Luftlinie entfernt. Die Eltern der kleinen Maria ließen keine Ruhe und beauftragten den Rechtsanwalt Wurm aus Altenhundem, entsprechende Schritte einzuleiten. Am 1. November 1935 wurde beim Landgericht Klage eingereicht. Am 3. April 1936  wurde Maria exhumiert und anschließend von dem Amtsarzt Dr. Veit aus Siegen obduziert, weil nicht nur die Eltern der kleinen Maria vermuteten, dass die Kugel noch im Kopf des Kindes steckte.

Der Schützenverein Bilstein stimmte dieser Exhumierung zu.  Noch am Benolper Friedhof[2a], wurde die stark verweste Leiche von Maria  – sie wog  am Tag des Todes ca. 20 Kg – begutachtet, und der Kopf vom Rest der Leiche abgetrennt. Nach entfernen von Gewebe und Weichteilen, zeigten sich zwei Öffnungen. Eine kreisrunde am Hinterkopf und eine größere an der Schläfe.  Der Schädel wurde ausgespült und die lockere faulige Gehirnmasse entfernt. Beim Durchsieben dieser Flüssigkeit fand man ein Hartmantelspitzgeschoß mit einer Projektil breite von 8 mm. Die äußere Spitze war schräg abgerissen. Danach wurde der Schädel zur weiteren Untersuchung in das Stadtkrankenhaus nach Siegen gebracht. Durch eine Röntgenuntersuchung wurde  festgestellt, dass das Geschoß in der  gesamten Länge durch den Schädel geschlagen ist.  So wurde eindeutig belegt, dass das Kind durch einen Gewehrschuss zu Tode kam.
Ein späteres Gutachten sagte Folgendes aus: “Es sei unbedingt der Schluss zu ziehen, dass die Geschosse aus dem Gewehr der 98er Waffe sind, die am besagtem Tag in der Nähe des Benolper Kreuzes herunter gekommen sind und Maria Löcker in den Kopf trafen.  Es handelt sich weiter um abgelagerte Munition” , so der Gutachter.

Franz Löcker, vertreten durch Rechtsanwalt Wurm, klagte vor dem Landgericht Siegen  gegen den Schützenverein Bilstein und Amt Bilstein wegen Amtspflichtverletzung. Auf diese Punkte stütze sich die Anklage.

  1. Der Schützenverein Bilstein hat nicht genügend auf das Vogelschießen aufmerksam gemacht. Man habe versäumt, Hinweise am “Schwarzen Brett  ” in Benolpe und Nachbarorte anzubringen.
  2. Nach Zeugenaussagen aus dem Veischedetal[1], wurden die letzten 20 Schuss beim Vogelschießen in Bilstein  mit einer unzulässigen 98 er  Infantriewaffe,  mit 8mm Stahlmantelmunition benutzt[2b]. Die Patronen wurden am Ende abgekniffen.  Erlaubt waren 71 er Modelle mit geringer Tragweite und Durchschlagskraft, sowie Munition mit Bleimantel.
  3. Das Gutachten des Landgerichts.

Am 5. Juni 1936 einigten sich Franz Löcker vertreten durch Rechtsanwalt Wurm und der Bilstein Schützenverein, vertreten durch Karl Grünewald, außergerichtlich  auf eine Schadensersatzsumme von RM 2000,-. Die Beweislage gegen den Schützenverein Bilstein war erdrückend eindeutig. Die Summe entspricht in der heutigen Zeit einer Kaufkraft  von ca.  € 10000,-. Der Schützenverein hatte für so einen Fall eine Haftpflichtversicherung bei der Iduna-Germania abgeschlossen. Diese Versicherung zahlte die Summe. Der Schützenverein Bilstein übernahm teilweise auch die Anwalts – u. Gerichtskosten von Franz Löcker.

Das  Amt Bilstein stimmte dem Vergleich nicht zu.  Franz Löcker hätte dann beim Verfahren vor dem Oberlandesgericht die Möglichkeit gehabt, wegen fahrlässiger Amtspflichtverletzung  zu klagen.  Was lag dieser Klage zur Grunde: Amtspflichtverletzung, weil der zuständige Polizeisekretär und Bürgermeister[3] beim Vogelschießen anwesend waren und das Schießen mit unzulässigem Gewehr und Munition nicht unterbunden haben. Zudem hatte das Amt Bilstein  die Genehmigung für das Vogelschießen gegeben, jedoch keine Vorsichtsmaßnahmen wie Sperrung der Wege rechts und links von der Vogelstange und das anbringen von Hinweisschildern versäumt. Franz Löcker wurde zu den Verfahren beim Landgericht Siegen am 7. Januar 1936, als auch beim Oberlandesgericht  Hamm[4] am 18. Februar 1937 das Armenrecht[5]  nicht zuerkannt, weil keine ausreichende Aussicht bestand, den Rechtsstreit zu gewinnen, so das Gericht.  So verzichtete er auf ein weiteres Revisionsverfahren vor dem OLG und Reichsgericht in Leipzig.

Erklärung zum Vogelschießen: Bis Ende der 1950 er Jahre wurde auf allen Schützenfesten im Sauerland  der Vogel  bei Schützenfesten von einer Stange geschossen . Hinter dem Stangenende befand sich kein Kugelfang. Erst in den  1950 er Jahre wurde an den  Vogelstangen  ein Kugelfang zur Pflicht.

Diese Aufzeichnungen beruhen auf ein Gespräch vom 23. 2.2014 mit Herbert Krämer aus Bilstein. Herr Krämer  stammt aus Benolpe und wurde 1926 geboren. Seine Kindheit verbracht er in Benolpe und war am besagtem 2. Juli 1934 Schüler der Benolper Volksschule und beim Waldbeerpflücken “Am Löh”, dabei.

Frau Leni Löcker aus Benolpe  stellte mir freundlicherweise alle noch verfügbaren Unterlagen zur Verfügung. Dies waren im einzelnen: Zeugenaussagen, Klageschriften, Urteile von Gerichten, Briefe von Franz Löcker  und Briefe von Rechtsanwälten Wurm und Grünewald.  Es waren etwa 200 Din A 4 Seiten. Sie stellte mir ebenfalls Bilder des Landgerichtes Siegen zur Verfügung.



Die Namen werden in der Prozessunterlagen genannt.

[1] Förster Schubert wurde im Juni 1945 durch russische Fremdarbeiter in seinem Forsthaus ermordet.

[2a] Der alte Benolper Friedhof befindet sich oberhalb von Benolpe Richtung Benolper Kreuz. Heute erinnert ein großes Kreuz an diesen Friedhof.

[2b] Hier stellt sich die Frage: warum haben die Bilsteiner Schützen die letzten 20 Schuss mit diesem Infanteriegewehren gemacht? Die Gewehre stammen aus dem Privatbesitz eines Bilsteiner Bürgers.

[3] Die Namen dieser Personen werden in den Prozessakten ebenfalls genannt.

[4] Vor dem OLG Hamm wurde Franz Löcker durch Dr. Pöppinghaus aus Hamm als Prozessbevollmächtigter vertreten.

[5] Armenrecht, heute Prozesskostenhilfe genannt, wird denen gewährt, die einen Bedürftigkeit nachweisen können. Das heißt: Das Führen eines Zivilprozesses ist kostenlos un der Staat bezahlt sowohl den Anwalt als auch die Gerichtskosten.